Gambit Filmtipp

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1. Akt: Der Chemiker Jörg Sambeth hat seine Baden-Württembergische Heimat verlassen, um den Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit zu entfliehen. Er will in der Schweiz leben, für ihn der Inbegriff von Demokratie und Gerechtigkeit. Obwohl er im Basler Chemiekonzern über die Sitten und Gebräuche staunt und in einer der Fabriken, für die er als neuer Topmanager nun verantwortlich ist, auf erschreckende Zustände stößt, hört er nicht auf seine inneren Warnstimmen. Als die Katastrophe eintritt, wird er dafür verantwortlich gemacht.
2. Akt: Er setzt alles daran, die Ursachen des Unfalls zu ermitteln. Als er merkt, dass er vom Konzern zum Sündenbock gestempelt werden soll, hat er nicht den Mut, sich zur Wehr zu setzen. Obwohl er bei seinen Recherchen auf Fakten stößt, die beweisen, dass er keineswegs der Hauptschuldige ist. Denn was ihm vor Gericht nützt, schadet jenen, die seine Anwälte bezahlen.
3. Akt: Er wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, seine Frau stirbt in dieser Zeit an Krebs. Er kann sich kaum um sie kümmern und ist von Schuld und Scham überwältigt. Und er realisiert, dass niemand an der Wahrheit interessiert ist. Seine Verurteilung kommt allen gelegen: Dem Konzern, der Justiz, die beweisen muss, dass sie die Grossen nicht laufen lässt, der aufgeschreckten Öffentlichkeit, die erwartet, dass gegenüber verantwortungslosen Managern ein Exempel statuiert wird.
4. Akt: Er findet in einem Rechtsanwalt einen Verbündeten und droht dem Konzern.
Aber seine Depression schlägt nur in gewissen Momenten in Wut um. Dann wieder dominiert die Angst. Und als er sich zu seiner größten Überraschung verliebt und zum zweiten Mal heiratet, beschließt er, den Kampf gegen den Konzern nicht aufzunehmen, sondern alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen. Aber die Vergangenheit ist nicht bewältigt, nur verdrängt.
5. Akt: Jahre später ist der Konzern plötzlich wieder in aller Munde – ein deutscher Fernsehjournalist behauptet, die Wahrheit über die Produktion und Nutzung des Dioxins von Seveso sei nicht ans Licht gekommen. Für Jörg Sambeth setzen die Vorwürfe nicht am richtigen Ort an. Die Verschwörungstheorien des Journalisten lassen außer acht, wie irrational im Konzern Entscheidungen gefällt werden, welche verschlungenen Wege sie gehen. Doch die selbstsichere Arroganz, mit der der Konzern auf die Anschuldigungen reagiert, provozieren ihn. Er will seine Wahrheit nicht länger verschweigen.

HINTERGRUND

Bis Sommer 1976 wurde die Produktion von Trichlorphenol (TCP), einem Vorprodukt für Desinfektionsmittel, in dem norditalienischen Dorf Seveso gesteigert, obwohl einige Anwohner über Geruchsbelästigungen und gesundheitliche Beschwerden klagten. Eine Modernisierung der Produktion wurde nicht umgesetzt.
Die Arbeitsbedingungen in der TCP-Produktion der kleinen Firma Icmesa waren schlecht. Die Arbeiter waren hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und verfügten über eine unzureichende Ausbildung. Ein Arbeiter berichtete später Folgendes: „Wenn eine Birne der Beleuchtungsanlage unserer Abteilung kaputt war, musste man erst mal Dampf unter Druck austreten lassen, um die giftigen Rauchwolken, die sich ständig unter dem Dach sammelten, zu entfernen, bevor einer von uns mit einer Leiter die Birne wechseln durfte.“
Im Juli 1976 kam es zu einem fatalen menschlichen Versagen. Gegen 12.30 Uhr begann eine chemische Kettenreaktion; zunächst langsam, dann mit schnellem Druck- und Temperaturanstieg, und endete schließlich in einer Explosion. Der Reaktionskessel für die TCP-Produktion erfuhr einen Wärmestau und infolge des Überdrucks platzte ein Sicherheitsventil. Da es kein Auffangreservoir gab, wurden ein bis zwei Kilogramm der hochgiftigen Substanz TCDD, zehntausendmal giftiger als Zyankali, in die Umgebung freigesetzt. Die sich ausbreitende Giftwolke trieb in südöstliche Richtung und ging hauptsächlich über den Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno nieder.
Erst um 13.45 Uhr traf fachkundiges Personal ein und konnte den Reaktor auf eine unkritische Temperatur herunterfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 1800 Hektar Land auf Jahre verseucht. Nur zögerlich werden Bewohner und Ärzte über die gefährliche Substanz aufgeklärt. Evakuierungen werden viel zu spät eingeleitet.
Zwischen 1981-1983 werden zahlreiche Häuser in Seveso abgerissen, dioxinverseuchte Erde in Gruben versenkt, der Reaktor abgebaut und hochgiftiges Material in Fässer abgefüllt. Das Verschwinden der Fässer und die ungewisse Entsorgung führen erneut zu einem Skandal.

ECKDATEN

Ein Überblick über die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge:

10. Juli 1976 Unfall in der Trichlorphenolanlage Icmesa
11. Juli 1976 Jörg Sambeth wird vom Fabrikleiter der Icmesa informiert
12 .Juli 1976 Auf Anordnung von Jörg Sambeth werden in der Umgebung Proben
genommen, um herauszufinden, was für Stoffe ausgetreten sind
14. Juli 1976 Die Proben ergeben, dass Dioxin ausgetreten ist
15. Juli 1976 Erste Krisensitzung in Basel. Der Vizepräsident der Hoffmann-La
Roche ordnet an, dass weder von den Mutterfirmen der Icmesa noch von Dioxin geredet wird
17. Juli 1976 Erste Artikel über einen mysteriösen Unfall werden veröffentlicht.
Das Sterben von Tieren und Hauterkrankungen von Kindern lösen in der betroffenen Bevölkerung Panik aus
18. Juli 1976 Jörg Sambeth informiert bei Spitalbesuchen in Mailand die Ärzte -
trotz Schweigegebot
23. Juli 1976 Verantwortliche der Icmesa und der Chef der Forschungslaboratrien
Givaudan legen den italienischen Behörden die Evakuierung der am stärksten verseuchten Zone A nahe
1981 - 1983 Abbruch der Häuser, Ausheben der Gruben für die dioxinverseuchte
Erde, Anpflanzen von Bäumen, Abbau des Reaktors und Abfüllen des Inhalts in 41 Fässer
April - Mai 1983 Fässerskandal
Mai 1983 Prozessbeginn in Monza
September 1983 Jörg Sambeth und der Fabrikleiter der Icmesa werden zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, der Generaldirektor der Givaudan zu vier Jahren. Die Verurteilten legen Berufung ein.
September 1985 Die Strafen für den Fabrikleiter und Jörg Sambeth werden auf zwei Jahre bedingt reduziert; der Generaldirektor der Givaudan wird freigesprochen
Oktober 1993 Der WDR sendet den Film «Das Geheimnis von Seveso» des Journalisten Ekkehard Sieker

WEITERE PROTAGONISTEN

Birgit Sambeth Glasner, Anwältin, Genf
Birgit Sambeth Glasner, die Tochter von Jörg Sambeth, wird als 14-jährige aus der Idylle ihrer Kindheit gerissen. Sie erlebt, wie die Familie nach der Anklage gegen den Vater gesellschaftlich in die Isolation gedrängt wird, wie sich Mutter und Vater in dieser Situation nicht gegenseitig beistehen können und die Mutter erkrankt und stirbt. Als sie später realisiert, was eigentlich genau passierte, beschließt sie, sich für mehr Gerechtigkeit einzusetzen und wird Rechtsanwältin.

Ulrich Sambeth, Geophysiker, Zürich
Ulrich Sambeth ist zum Zeitpunkt des Unfalls 16 Jahre alt. Er hat Mitleid mit dem Vater und realisiert, dass es jetzt wichtig ist, ihn nicht noch zusätzlich zu belasten. Nach der Matur wechselt er von Genf ans Politechnikum in Zürich und wird Geophysiker. Heute arbeitet er in leitender Stellung in einer Firma, die Großbaustellen sichert. Er sorgt dafür, dass keine Unfälle passieren, damit Menschen und Umwelt keinen Schaden nehmen.

Italo Pasquon, Professor für Chemie, Politecnico di Milano
Für Italo Pasquon, der als technischer Experte im Auftrag von Givaudan und Hoffmann-La Roche mit der Aufklärung der Unfallursache betraut war, ist und bleibt es so: Der Unfall sei nicht vorhersehbar gewesen, weil die thermodynamischen Prozesse, die durch die Wärmeabstrahlung von der noch heißen Reaktorwand auf die Oberfläche der im Reaktor enthaltenen Flüssigkeit zustande kamen, damals nicht bekannt gewesen seien. Sambeth, sagt er, sei trotzdem verurteilt worden, weil die italienische Justiz unter dem Druck der Öffentlichkeit nicht alle höheren Manager über dem Fabrikleiter der Icmesa habe freisprechen können.

Roger Dagon, Anwalt, Genf
Roger Dagon war der einzige Anwalt, den Sambeth persönlich kannte und den er deshalb selber zu seiner Verteidigung vorschlug. Alle anderen Anwälte waren von der Rechtsabteilung der Hoffmann La-Roche angestellt und bezahlt. Dagon ist überzeugt, dass dies Sambeth zum Verhängnis wurde. An den Sitzungen sei alles so auf dem Schachbrett arrangiert worden, dass Bauern und Läufer geopfert wurden, um die Königin, die Hoffmann La-Roche, zu schützen.

Alberto Moro-Visconti, Mailand
Alberto Moro-Visconti wird von Hoffmann La-Roche beauftragt, die Leitung der Verteidigung der Angeklagten im Seveso-Prozess zu übernehmen. Er sagt, die Strategie der „technischen Verteidigung“ sei unter den gegebenen Umständen die einzig mögliche gewesen, da Jörg Sambeth als technischer Direktor der Givaudan halt auch die Supervision über die Anlage in Seveso gehabt habe. Der Fall sei nur dank der Strategie einer wissenschaftlichen Aufklärung des Unfalles so glimpflich abgelaufen. Immerhin sei es dank dieser Strategie gelungen, das erstinstanzliche Urteil von fünf Jahren in der Berufung auf eineinhalb Jahre auf Bewährung zu vermindern.

Ekkehard Sieker, TV-Journalist ARD, Köln
Ekkehard Sieker, Journalist und Physiker, stößt bei einer Recherche über die Giftmülldeponie Schönberg Anfang 1992 auf ein Dokument, das vermuten lässt, dass die 41 Dioxin-Fässer aus Seveso in Schönberg eingelagert wurden. Sieker wittert einen Skandal. In seiner Reportage „Das Geheimnis von Seveso“ behauptet er, dass Dioxin sei nicht unerwünschtes Nebenprodukt gewesen, sondern an Wochenenden absichtlich für militärische Zwecke produziert worden.

ANMERKUNGEN DER REGIE

Wochenlang bin ich im Sommer 2003 mit Jörg Sambeth zusammengesessen. Er hat mir seine Geschichte erzählt und hunderte seiner akribisch gesammelten Dokumente vorgelegt. Vieles konnte ich erst glauben, als ich es schwarz auf weiß vor mir sah. Der Blick hinter die Kulissen des multinationalen Großkonzerns erschütterte mich und ebenso berührte mich Sambeths ganz persönliches Drama.
In mir setzte sich ein Bild aus den Intrigen des Konzerns und Jörg Sambeths privatem Leben zusammen, das ich im Film vermitteln wollte. Es war eine Geschichte voller Paradoxe, die ich da hörte. Die Geschichte eines Menschen, der in einer verantwortungslosen, ungerechten Welt ein verantwortungsvolles, gerechtes Leben führen will und dabei scheitert.
Für die Recherchen zum Film bin ich von Jörg Sambeths Erzählungen und Dokumenten ausgegangen, deren Offenlegung im Film ihm übrigens eine Gefängnisstrafe einbringen könnte, da Geschäftsgeheimnisverletzung in der Schweiz nicht verjährt.
Ich habe in schweizerischen und italienischen Archiven eigene Nachforschungen angestellt und mit allen Menschen, von denen er mir erzählt hatte, Kontakt aufgenommen. Von den damals mitbeteiligten und heute noch lebenden Managern von Givaudan und Hoffmann-La Roche erklärte sich keiner bereit, mit mir zu reden. Umso erleichterter war ich über die Gespräche mit den damaligen Anwälten und technischen Experten, die heute auch im Film zu Wort kommen. Die Mitglieder von Jörg Sambeths Familie waren von Anfang an zu vertrauensvollen Gesprächen bereit.
Ich musste - und wollte - mir für den Film einen eigenen Standpunkt, einen eigenen Blick entwickeln. Sambeth hat nie versucht, mich zu einem Heldenportrait, zu einem Rachefeldzug gegen die Roche oder zu einer späten Rehabilitierung seiner Person zu verleiten.
Den Opfern der Katastrophe ist "Gambit" gewidmet. Bei ihnen beginnt der Film.

Am 10. Juli 1976 wird das norditalienische Dorf Seveso schlagartig bekannt. Nach einer Explosion in der Fabrik Icmesa – Tochter der Genfer Firma Givaudan, die zum Schweizer Chemieriesen Hoffmann-LaRoche gehört – tritt hochgiftiges Dioxin aus. Eine Katastrophe für Mensch und Tier.

Als Bauernopfer muss nach dem Unfall der junge Chemiker Jörg Sambeth herhalten. Er war damals der technische Direktor der Givaudan und wurde über Nacht für die größte Umweltkatastrophe, die bis dahin in Europa geschah, verantwortlich gemacht.
Bei seinen Ermittlungen über die Ursachen und Hintergründe stößt er auf Fakten, die ihn entlasten und vor einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren bewahren könnten, aber seinen Vorgesetzten schaden würden. Doch kann, soll oder darf er selbst etwas unternehmen?

Jörg Sambeths rückblickende Schilderung der Ereignisse der Chemie-Katastrophe ist zentral in GAMBIT. Seine Lebensgeschichte, niedergeschrieben in dem Tatsachenroman ZWISCHENFALL IN SEVESO, ist untrennbar verbunden mit dem Fall Seveso. Ein spannendes, beispielhaftes Lehrstück über die Mechanismen der Macht in Großkonzernen, manipulierte Wahrheit im Umgang mit Katastrophen und fatale Abhängigkeiten.

„Es war mir ein großes Anliegen, nicht einen Film zu machen, der mit 30 Jahren Verspätung die damalige Generaldirektion der Hoffman-La Roche an den Pranger stellt, sondern einen Film, der anhand dieses Falles zu rekonstruieren versucht, wie Katastrophen verursacht und von Großkonzernen sogenannt bewältigt werden – darin liegt, so ist zu befürchten, die Aktualität des Filmes.“(Sabine Gisiger)

SYNOPSIS

"Die dramaturgische Leitlinie des Filmes folgt in fünf Akten der inneren Dramaturgie des Protagonisten. Es ist die Geschichte eines Menschen, der an einem guten Ort ein gutes Leben führen und gute Arbeit leisten will: Dann geschieht das Unglück und er sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, daran schuld zu sein.
Es beginnt die `Reise des Helden` im klassischen Sinn." (Sabine Gisiger)